Der Wirbelkörper
Inhalt
- Weiß jemand, was ein Wirbelkörper ist?
- Der Mensch ist das einzige Säugetier, das aufrecht geht
- Ein Wirbelkörper lässt sich mit einem Behälter vergleichen
- Schwammartiger Inhalt
- Wie kommt es, dass dieser ‚Schwamm‘ so stabil ist?
- Funktioneller Unterschied zwischen Wirbelkörper und Bandscheibe
- Ein Wirbelkörper altert und wird osteoporotisch
- Ein Wirbelkörper kann brechen
- Literaturliste
1. Weiß jemand, was ein Wirbelkörper ist?
Eine einfache Frage mit einer einfachen Antwort? Nein! Niemandem fällt es schwer, sich Augen, Ohren, Herz, Lunge, Magen-Darm-Trakt oder Geschlechtsorgane vorzustellen. Jeder hat täglich mit ihnen zu tun. Arme und Beine, Hände und Füße, Schultern und Hüften, Ellenbogen und Knie, Hand- und Fußgelenke… Jeder kann sie sehen, fühlen, manchmal riechen oder sogar Geräusche mit ihnen machen. Jeder kann auch leicht verstehen, dass diverse Erkrankungen die Beweglichkeit dieser Gelenke gefährden können.
Aber ein Wirbelkörper? Was ist das? Wo sitzt der? Wie sieht er aus? Wozu ist der gut? Bittet man Otto Normalverbraucher, ihn zu zeichnen – ohne vorher bei Google zu spicken –, bekommt man die eigenartigsten Darstellungen zu sehen. Und doch sind chronische Schmerzen im unteren Rücken die häufigste nicht lebensbedrohliche Erkrankung. Weltweit werden 80 % aller Menschen in ihrem Leben mit Rückenschmerzen zu tun haben (1). Deshalb ist es wichtig zu wissen, was ein Wirbelkörper ist.
2. Der Mensch ist das einzige Säugetier, das aufrecht geht
Kaum einer denkt noch darüber nach, dass der Mensch das einzige Säugetier ist, das ständig aufrecht geht.Um den Körper in der Vertikalen stabil zu halten und sich in aufrechter Haltung fortbewegen zu können (‚axiale Rigidität‘), sah sich der Mensch gezwungen, in seiner Wirbelsäule eine spezielle S-förmige Krümmung zu entwickeln (siehe Blogeintrag ‚Wirbelsäule‘).
Die verschiedenen Kurven, die sogenannte ‚zervikale Lordose‘, ‚thorakale Kyphose‘, ‚lumbale Lordose‘ und die Beckenkippung, befinden sich daher an anderen Stellen der Wirbelsäule als bei den übrigen Säugetieren. Sonst wäre der Mensch ein Vierfüßer geblieben. Da die Kurven beim Gehen leicht zu- und abnehmen (2), besteht die Gefahr, dass der Mensch aus der Balance gerät. Um nicht umzufallen, hat er deshalb lange Rücken- und Bauchmuskeln ausgebildet (3), die enorme Kraftanstrengungen leisten müssen. Damit der Mensch den Einfluss dieser Muskelkraft, aber auch den der Schwerkraft auffangen kann, hat die natürliche Evolution dafür gesorgt, dass der Wirbelkörper auf besondere architektonische Weise aufgebaut ist. Darum ist er der wichtigste Bestandteil der Wirbelsäule.
3. Ein Wirbelkörper lässt sich mit einem Behälter vergleichen
Der Wirbelkörper ist der größte und wichtigste Teil des Wirbels (Abbildung 1). Man kann ihn mit einem Behälter vergleichen, der ganz mit einem weichen Schwamm ausgefüllt ist (4). Das weiche, schwammartige Knochengewebe nennt man ‚Sponsiosa‘. Es ist von einer dünneren, aber viel härteren Hülle umgeben, der ‚Knochenrinde‘. Wie bei so vielen Dingen in der Natur ist der Inhalt (die Sponsiosa) wichtiger als die Hülle, auch wenn er nur ein Schwamm ist.
4. Schwammartiger Inhalt
Das weiche, schwammartige Material in dem Behälter besteht aus eine ganzen Reihe kurzer Stützbälkchen, den sogenannten ‚Trabekeln‘. Dies sind komplexe Strukturen, die aus Proteinen gebildet werden, in denen und um die herum Mineralien gespeichert sind (5, 6, 7, 8) (Abbildung 2).
Diese Mineralien bestehen hauptsächlich aus Kalkphosphat-Kristallen (Hydroxylapatit-Kristallen). Sie sorgen dafür, dass der Wirbelkörper stark genug ist, um den vertikalen Druckkräften standzuhalten. Die Proteine bestehen zu 90 % aus Typ-1-Kollagenfasern, welche die wechselnden Druckveränderungen im Wirbelkörper auffangen sollen (4).
5. Wie kommt es, dass dieser ‚Schwamm‘ so stabil ist?
Die Stärke des schwammartigen Knochens hängt nicht nur von der Masse des weichen Knochengewebes ab, die sich im Wirbelkörper befindet, sondern vor allem von der besonderen architektonischen Konstruktion der Knochentrabekel.
Die meisten dieser Trabekel sind vertikal angeordnet, da sie als Stützpfähle dienen, welche die vertikalen Kräfte auffangen und sie von der Ober- zur Unterkante des Wirbelkörpers weiterleiten. Um zu verhindern, dass sie durch die enormen vertikalen Kräfte auseinandergedrückt werden, sind die vertikalen Trabekel durch horizontale Trabekel untereinander verbunden.
Das trabekuläre Verbindungsmuster lässt sich mit den vertikalen und horizontalen Pfeilern im Rohbau eines Hochhauses vergleichen. Diese Bautechnik ist entscheidend für die Stabilität des Wirbelkörpers, verringert die Einsturzgefahr und sorgt für große Zwischenräume, die mit Blutzellen gefüllt sind. Darum der Vergleich mit einem ‚Schwamm voll Wasser‘ und der Name ‚Sponsiosa‘ (‚Schwammknochen‘, Abbildung 1).
6. Funktioneller Unterschied zwischen Wirbelkörper und Bandscheibe
Zusammen mit den Bandscheiben bieten die Wirbelkörper den größten Widerstand gegen die vertikalen Druckkräfte auf der Wirbelsäule. Allerdings hat der Wirbelkörper eine völlig andere Funktion als die Bandscheibe.
Eine gesunde Bandscheibe leitet die Druckkräfte einfach an die Wirbelkörper weiter (Abbildung 3). Das Einzige, was der Wirbelkörper dann immer versuchen muss, ist, diese Belastungen aufzufangen, ohne zu brechen. Unter normalen Umständen werden die Druckkräfte zu 90 % von den Knochentrabekeln aufgefangen (10, 11), die übrigen 10 % von den Facettengelenken.
7. Ein Wirbelkörper altert und wird osteoporotisch
Die Qualität des Knochengewebes nimmt mit dem Alter ab (Abbildung 4). Der Hauptgrund hierfür ist der zunehmende Mangel an körperlicher Aktivität. Wer sein Leben lang körperlich sehr aktiv bleibt, entwickelt stärkere Wirbelkörper und Bandscheiben (12). Durch den Alterungsprozess sinkt aber auch die Hormonproduktion. Vor allem bei Frauen ist die Abnahme des Hormons Östrogen für die Verringerung der Masse und Stärke des Knochengewebes verantwortlich (13). Aber auch Männer entwickeln Osteoporose, wenn ihre Testosteronproduktion abnimmt.
Die Abnahme der Qualität des Knochengewebes durch den Alterungsprozess und die Verringerung der Sexualhormone im Kreislauf nennt man ‚Osteoporose‘. Wer außerdem viel raucht und zu viel Alkohol trinkt, beschleunigt und stimuliert den osteoporotischen Prozess erheblich. Diese Menschen entwickeln also viel früher als andere die Probleme, die man der Osteoporose zuschreibt (9).
8. Ein Wirbelkörper kann brechen
Ein Wirbelkörper kann brechen, wenn die vertikalen Druckkräfte größer als der architektonische Widerstand der Knochentrabekel im Wirbelkörper sind. Das kann passieren, wenn man etwa aus geringer Höhe fällt oder schwere Lasten heben will.
Die bekannteste Erkrankung, die den Wirbelkörper brechen lässt, ist Osteoporose. Diese Krankheit beginnt im Alter von etwa 30–35 Jahren, ist nicht heilbar und schreitet unaufhörlich fort, da immer mehr vertikale Trabekel abgebaut werden. Damit steigt die Einsturzgefahr (9). Mit zunehmendem Alter kann niemand den Folgen dieser Erkrankung entkommen. Die oberen Abschlussplatten der Wirbelkörper sind dünner als die unteren und sind daher das schwächste Glied des Wirbels (14). Wenn die vertikalen Stützpfeiler wegbrechen, werden die oberen Abschlussplatten weniger gestützt, sacken in der Regel als erste ein und zerbrechen (Abbildung 5).
Wenn Verletzungen in Höhe der Abschlussplatte auftreten, kann das schmerzhaft sein, da Abschlussplatten schmerzempfindliche Nervenfasern enthalten (15, 16). Auch bei jungen Menschen sind kleine Brüche in der oberen Abschlussplatte am häufigsten für das Entstehen von Schmerzen im unteren Rücken verantwortlich (17, 18, 19).
9. Literaturliste
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- Granata KP, Marras WS, ‘The influence of trunk muscle coactivity on dynamic spinal loads’, Spine, 1995, 20:913
- Adams MA, Bogduk N, Burton K, Dolan P, ‘The biomechanics of back pain’, Elsevier, Churchill Livingstone, 2013
- Banse X, ‘When density fails to predict bone strength’, Acta Orthop Scand Suppl, 2002, 73:1
- Fratzl P, ‘Extra dimension for bone analysis’, Nature, 2015, 527:308
- Liebi M, Georgiadis M, Menzel A et al., ‘Nanostructure surveys of macroscopic specimens by small-angle scattering tensor tomography’, Nature, 2015, 527:349
- Sanderson K, ‘Nature Outlook Biomaterials. Artificial armour’, Nature, 2015, 519:S14
- www.guy-declerck.com / Spinal Pathologies / Spinal Osteoporosis
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- Porter RW, Adams MA, Hutton WC, ‘Physical activity and the strength of the lumbar spine’, Spine, 1989, 14:201
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- Wang Y, Videman T, Battié MC, ‘ISSLS prize winner. Lumbar vertebral endplate lesions. Associations with disc degeneration and back pain history’, Spine, 2012, 37:1490